Wie das Netz die Radikalisierung beschleunigt

(Medientage, 2019) „Wir dürfen die modernen Technologien des Internets nicht den Extremisten überlassen. Die Gesellschaft muss sich dafür interessieren, was dort los ist“, so der Schlussappell von Simon Hurtz am Ende seines Vortrages während der MEDIENTAGE MÜNCHEN. Das Netz sei zwar nicht schuld an den Morden von Halle, aber es trage gewissermaßen als Radikalisierungsbeschleuniger dazu bei, erläuterte der Journalist. Hurtz ist unter anderem als Autor im Digital Team der Süddeutschen Zeitung, sowie für den Social Media Watch Blog und als Dozent und Moderator tätig.

 

Am 9. Oktober hatte ein Terrorist in Halle zwei Menschen erschossen. Angekündigt hatte er seine Tat in Imageboards, also auf speziellen Internetforen, die stark bilderzentriert sind und Meinungsfreiheit propagieren. Den Anschlag selbst übertrug er via Livestream. Wie schon die Terroranschläge in Christchurch, El Paso oder Poway zeige auch der aktuelle Fall aus Deutschland, wie unter dem Deckmantel von radikaler Redefreiheit junge, weiße Männer die Grenzen von anarchischem Humor zu offener Menschenverachtung überschritten und von Rechtsextremen instrumentalisiert werden. „Deshalb müssen wir die Rolle von Imageboards genau betrachten, denn es ist verstörend, was dort passiert“, sagte Hurtz. „Niemand mordet nur, weil er sich auf Imageboards herumtreibt, aber diese anonymen, digitalen Stammtische ziehen einen bestimmten Menschenschlag an und bestärken sie in ihrem Hass auf Ausländer, Frauen oder Juden.“ Nicht umsonst habe sich Fredrick Brennan, der Erfinder des Imageboards 8chan, dafür entschuldigt, dass er ein Monster erschaffen habe.

 

Im zweiten Schritt warf Hurtz einen Blick auf die Rolle der Videospiele: Es könne nicht um eine neue Debatte über Killerspiele gehen. 34 Millionen Menschen in Deutschland spielen Computer-, beziehungsweise Videospiele. Dennoch herrsche auf Spieleplattformen wie Steam „eine zunehmend toxische Atmosphäre auf denen Menschen von Extremisten angesprochen werden, die dafür empfänglich sind.“ Horst Seehofer habe mit seiner Bemerkung, viele Täter stammten aus der Game-Szene, unglücklich formuliert und sei dafür zurecht kritisiert worden. Aber es gebe in der Realität tatsächlich Überlappungen mit der rechtsextremen Szene, so der Social Media Journalist.

 

Auch die Rolle der klassischen Medien nahm Hurtz kritisch unter die Lupe. Gar nicht zu berichten sei natürlich keine Lösung, aber durch das Zeigen von Tätervideos und die Dämonisierung der Taten ließen sich Journalisten instrumentalisieren. Terroristen würden dadurch in einen Heldenstatus gehoben. Sein Lösungsvorschlag: Dezenter berichten, weniger auf die Täter mehr auf die Opfer konzentrieren und die Gründe für die Taten hinterfragen.

 

Zum Abschluss seines Vortrages ging der Journalist auf mögliche Maßnahmen und Lehren ein: Mehr Überwachung und schärfere Gesetze sind nach Ansicht von Hurtz nicht die Lösung. Dennoch könne auf Gaming-Plattformen wie Steam oder Discord zumindest Druck ausgeübt werden, damit sie ihre Inhalte genauer kontrollieren. Auch wenn Technik keine sozialen Probleme lösen könne, plädierte Hurtz dennoch dafür, in manchen Situationen Uploadfilter und Algorithmen einzusetzen. Facebook, Google und Youtube hatten im sogenannten „Christchurch Call“ ihre Kräfte gebündelt, nachdem sie das Video des Terroristen 1,5 Millionen Mal löschen mussten. Im Fall des Terroraktes in Halle habe die neue Vorgehensweise bereits Wirkung gezeigt.

 

Um im Vorfeld Terror zu bekämpfen, „brauchen wir gut ausgebildete Ermittler, spezialisierte Staatsanwälte, aber auch geschulte Pädagogen, die früh Gefahren erkennen“, forderte Hurtz. Die ganze Gesellschaft müsse sich mehr dafür interessieren, was da passiere. „Vielen fehlt ganz schlicht das Vokabular. Sie wissen gar nicht, worüber wir reden.“