
(Medientage, 2020) „Angst, Unsicherheit und Unwissenheit sind ein gefährlicher Nährboden, und diesen nutzen Corona-Leugner, Impfgegner, religiöse Eiferer, Reichsbürger, Rechtsradikale bis hin zu
Antisemiten. Aber darf ich deshalb alle, die Fake News Glauben schenken, als „Covidioten“ bezeichnen? Ich finde nein.“ Ilse Aigner (CSU), Präsidentin des Bayerischen Landtags, rief im Rahmen der
MEDIENTAGE MÜNCHEN dazu auf, „unsere Demokratie noch wehrhafter gegen Extremisten aller Art zu verteidigen“. Die Politikerin sieht sich in ihrer jetzigen Position als „oberste
Demokratiebeauftragte“ des Freistaates Bayern. In ihrer Keynote betonte sie, dass in der aktuell gesellschaftspolitisch extrem angespannten Situation die Demokratie den Bürgerinnen und Bürgern
vielzumute und sie mit widersprüchlichen Aussagen zuweilen auch verunsichere. Ob Politikerinnen und Politiker oder Journalistinnen und Journalisten –Aigner appellierte an alle, sich auch mit
Personengruppen aus dem extremen Meinungsspektrum zu beschäftigen und zu versuchen, mit Fakten zu überzeugen, statt auszugrenzen. Das sei keine leichte Aufgabe, räumte Aigner ein, denn viele
Verantwortliche aus den Bereichen Journalismus und Politik würden selbst Opfer von Hasskriminalität, aus Worten würden Taten, teilweise drohe sogar Gefahr für Leib und Leben.
Die Universität Bielefeld hat 300 Journalistinnen und Journalisten befragt. Sechzig Prozent gaben an, schon einmal beleidigt oder Opfer von Shitstorms oder sogar angegriffen geworden zu sein,
erklärte Aigner. Diese Vorfälle seien zu 85 Prozent dem rechten Spektrum zuzuordnen gewesen. Besonders beängstigend fand die bayerische Landtagspräsidentin, dass 16 Prozent der Befragten angaben,
aus Angst vor solchen Reaktionen schon einmal nicht über ein Thema berichtet zu haben. Auch Politiker, vor allem weibliche, seien vom Hassbetroffen. Nach einem Bericht des ARD-Magazins Report
seien neunzig Prozent aller weiblichen Bundestagsabgeordneten bereits mit Hate Speech konfrontiert gewesen, sagte Aigner und forderte: „Strafrechtliche Verfolgung und parteiübergreifende
Solidarisierung sind ein wichtiges Mittel, um Hass entgegenzutreten. Wir müssen rote Linien ziehen.“ Dazu gehöre es auch, entsprechende Posts oder Tweets nicht nur zu löschen, sondern auch zu
melden und anzuzeigen.
Ilse Aigner fehlen in der Diskussion über Hass und Verschwörungserzählungen im Internet noch einige Antworten: Was bedeuten Verschwörungstheorien für unsere parlamentarische Demokratie? Welche
Gefahr geht davon aus und wie begegnen wir ihr konkret? Das müssten sich auch die Bürger fragen, denn Hass begegne uns allen längst nicht nur im Internet. Die Politikerin bezeichnete auch verbale
Gewalt gegen Polizei und Rettungskräfte als unerträglich. Diese sollte nicht unwidersprochen oderschulterzuckend hingenommen werden.
„Wir sollten von der Kraft des besseren Arguments überzeugt sein, wir dürfen nicht die Menschen aufgeben, die noch auf dem Boden der Demokratie stehen“, lautete Aigner Appell. An die Presse
richtete sie die Aufforderung, die einzelnen journalistischen Formate wieder klarer zu trennen, für Vielfalt auf den Meinungsseiten zu sorgen und zurückhaltend mit der eigenen Haltung umzugehen.
Die Devise müsse sein: informieren statt belehren.
Die sozialen Online-Netzwerke hält Aigner für Verstärker der Verschwörungsmythen. So würden verschwörungsähnliche Inhalte fünf Mal häufiger geteilt als andere. Algorithmen sorgten dafür, dass man
sehr schnell in der Meinungsblase gefangen sei. Zudem habe sich Facebook im vergangenen Jahr nicht sonderlich zugänglichgezeigt. „In neunzig Prozent der von uns beanstandeten Fälle wurde nicht
kooperiert“, beklagte die Politikerin. Gegen die Internet-Giganten müsse es einen europäischen Vorstoß, eine Regulierung geben. Es sei auch wichtig, dass die Debatten über den richtigen Weg aus
einer Krise wie der Corona-Pandemie nicht auf den Straßen, sondern in Parlamenten geführt würden. Sie müssten der zentrale Ort der Auseinandersetzung sein. „Nur eine leidenschaftlich geführte
Debatte in den Parlamenten nimmt den Hatern und Verschwörungstheoretikern den Wind aus den Segeln“, argumentierte Aigner. „Wenn sieben Millionen Menschen glauben, dass geheime Mächte die Welt
steuern, dann haben wir noch viel Arbeit vor uns.“
Die anschließende Diskussionsrunde beschäftigte sich mit dem Thema, inwieweit Anhänger von Mythen und Träger von Alu-Hüten harmlos oder gefährlich seien. Die Sozialpsychologin Pia Lamberty sagte,
dass Verschwörungsglaube nicht unbedingt mit mangelnder Intelligenz oder psychischen Erkrankungen zusammenhänge. Beinflussende Faktoren seien vielmehr der Umgang mit Krisensituationen, der
Wunsch, sich selbst aufzuwerten oder komplexe Strukturen wie Krisen verstehen zu wollen. „Es gibt nicht die eine Verschwörungspersönlichkeit“, erklärte Lamberty. Zu beobachten sei aber, dass
beispielsweise Männer stärker an Verschwörungen glaubten als Frauen.
Die ZDF-Journalistin Nicole Diekmann berichtete von ihren Erfahrungen als Berichterstatterin bei der dritten „Corona-Demonstration“ in Berlin. Für sie stellte sich auch die Frage, wie viel
medialen Raum die Redaktionen Bewegungen wie Pegida, AfD oder Corona-Leugnerngeben sollten. Sie sieht ihre Aufgabe in objektiven Faktenchecks und einer „sauberen“ Berichterstattung. „Hilfreich
ist ein innerer Kompass, dem man folgt, auch wenn wir immer wieder in Frage gestellt werden.“ Ihr sei in der Auseinandersetzung mit Verschwörungstheoretikern klar geworden, „dass wir
transparenter als bisher arbeiten müssen, denn es ist erschreckend, wie wenig die Leute darüber wissen, wie wir arbeiten“, sagte Diekmann.
Alice Echtermann vom Recherchebüro Correctiv verwies auf zahlreiche Studien, die inzwischen belegt hätten, dass Faktenchecks Wirkung zeigen. Teilweise würden Menschenihre Fake-News-Posts dann
auch selbst wieder entfernen. „Allerdings fällt es schwer, Ideologien oder Verschwörungsglauben mit harten Fakten zu widerlegen, denn sie bauen nicht auf Tatsachenbehauptungen auf, die man mit
einer Recherche beantworten könnte“, erläuterte Echtermann. Zudem veränderten sich die Kommunikationsstrategien. Echtermann plädierte für mehr Aufklärung über die Mechanismen von Desinformation,
über das Erkennen seriöser Quellen und deren differenzierte Beurteilung: „Die Pandemie hat das unter die Lupe geholt, was vorher schon existent war. Wichtig ist es, Medienkompetenz bereits in den
Schulen aufzubauen, und sachlicher über Verschwörungsmystiker zu diskutieren, statt Attila Hildmann noch mehr Reichweite gebe.“ Dem schloss sich Pia Lamberty an: „Das Phänomen geht weit über
Corona hinaus, es werden uns auch der Klimawandeloderökonomische Krisenbeschäftigen. Deshalbwünsche ich mir weniger Pathologisierung und mehr Hinwendung zu Inhalten sowie ein stärkeres Hinschauen
auf die Betroffenen und weniger auf die Verbreiter.